Die COVID-19-Pandemie belastete die psychische Gesundheit von Patientinnen und Patienten erheblich. Die Angst vor Ansteckung, aber auch die eingeschränkte Freiheit durch politische Maßnahmen trugen dazu bei.
Verordnungen von Psychopharmaka in der Pandemie
Eine rezente Studie untersuchte die Unterschiede der Psychopharmaka-Verschreibung der Jahre 2019 und 2020. Die Studienergebnisse und mögliche Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem finden Sie in unserem folgenden Artikel.
Verordnungen von Psychopharmaka in Österreich in den Jahren 2019 und 2020 – Auswirkungen der COVID-19-Pandemie[1]
Pandemien, wie bei COVID-19, können das Sicherheitsgefühl, das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der Allgemeinbevölkerung erheblich beeinträchtigen. Traunmüller et al. [1] führten eine Online-Befragung der österreichischen Bevölkerung durch und stellten fest, dass 37,7 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine starke psychische Belastung durch die COVID-19-Pandemie verspürten sowie 10 % an Depressionen, Angstzuständen oder Stress litten. Laut Pieh et al. [2] gab es eine deutliche Zunahme von depressiver Symptomatik, Angstsymptomen sowie Schlaflosigkeit während des ersten COVID-19-Lockdowns in Österreich. Diese nachteiligen gesundheitlichen Folgen konnten auch noch Monate nach dem Ende der Abriegelungsmaßnahmen festgestellt werden [3].
Zu den emotionalen Belastungsfaktoren, die aus der Pandemie resultierten, gehörten nicht nur die Angst vor einer Ansteckung und die damit verbundene Furcht vor negativen gesundheitlichen Folgen bis hin zum Tod, sondern auch eine erhebliche Verunsicherung durch die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch Schutzmaßnahmen und die teilweise widersprüchlichen Botschaften von Behörden und Politik. Zudem wuchs die Sorge um die finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, da die Zahl der Arbeitslosen im zweiten Quartal 2020 in Österreich deutlich anstieg [4].
Es ist denkbar, dass sich diese Stressfaktoren auf prädisponierte Personen mit vorbestehenden psychischen Erkrankungen noch stärker auswirkten [5]. Bei der Bewältigung dieser externen, psychischen Stressoren kommt dem öffentlichen Gesundheitssystem eine wichtige Rolle zu. In Österreich kam es jedoch aufgrund einer erhöhten Belastung des Gesundheitssystems zu Beginn der Pandemie zu einem reduzierten Betrieb in vielen Krankenhäusern und Ambulanzen, was die Versorgung von Patientinnen und Patienten beeinflusst haben könnte [6]. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies darauf hin, dass COVID-19 in den meisten Ländern zu einer Beeinträchtigung der psychiatrischen Versorgung geführt hat [7]. Dies könnte in Kombination mit der Barrierewirkung durch die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu einer Unterbehandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geführt haben.
Eine Zielsetzung der vorliegenden Studie war, die Verordnungen von Psychopharmaka in Österreich im Jahr 2020, dem ersten Jahr der COVID-19-Pandemie, im Vergleich zum Vorjahr 2019 zu analysieren und aus diesen Verordnungsraten Rückschlüsse auf die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems zu ziehen.
Methodik
Es wurde eine bundesweite Analyse von anonymisierten Verordnungsdaten aller Anspruchsberechtigten der drei großen gesetzlichen Krankenkassen in Österreich – Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) und Sozialversicherung der Selbständigen (SVS) bzw. deren Vorgängerorganisationen – in den Jahren 2019 und 2020 durchgeführt.
8.773.427 Personen (98,8 % der Einwohnerinnen und Einwohner Österreichs) waren 2019 und 8.780.142 Personen (98,5%) waren 2020 bei den drei genannten Sozialversicherungsträgern anspruchsberechtigt. Ausgewählt wurden Patientinnen und Patienten, die in den Jahren 2019 und 2020 Psychopharmaka verordnet bekamen. Dazu zählten Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika/Hypnotika und Sedativa, Psychostimulanzien, Antidementiva sowie Mittel zur Behandlung von Suchterkrankungen. Für diese Patientinnen und Patienten wurden die Daten für jede Verschreibung im definierten Studienzeitraum abgerufen.
Außerdem wurden Daten zur Neuverschreibung von Psychopharmaka ausgewertet. Als neue Patienten wurden solche definiert, die in den letzten 60 Tagen kein Psychopharmakon verschrieben bekommen hatten.
Die beiden Lockdowns in Österreich im Jahr 2020 (erster Lockdown von 16.04.2020 bis 01.05.2020 und zweiter Lockdown von 17.11.2020 bis 06.12.2020) wurden als Testperioden definiert.
Damit der Arzneimittelverbrauch international verglichen werden kann, wurde von der WHO eine internationale Messeinheit, die Defined-Daily-Dose (DDD; definierte Tagesdosis) geschaffen. Hierbei handelt es sich um die angenommene durchschnittliche Erhaltungsdosis pro Tag für ein Arzneimittel, das für seine Hauptindikation bei Erwachsenen verwendet wird [8, 9].
Die Daten wurden in Form von deskriptiver Statistik dargestellt. Das Signifikanzniveau wurde auf p≤0,05 festgelegt. Alle p-Werte der statistischen Tests wurden mit der Bonferroni-Holm-Methode korrigiert.
Ergebnisse
1.176.146 Patientinnen und Patienten (13,4 % aller Anspruchsberechtigten) erhielten 2019 mindestens eine Verordnung eines Psychopharmakons und 1.139.319 Patientinnen und Patienten (13,0 % aller Anspruchsberechtigten) im Jahr 2020. Im Jahr 2019 wurden 11.328.660 Rezepte ausgestellt während es im Jahr 2020 nur 10.967.459 waren (-3,2 %).
Von 2019 auf 2020 war ein Rückgang der Verordnungen von Anxiolytika und Hypnotika um 11,7 % und ein Rückgang der Antidementiva um 5,6 % auffällig.
Die Verordnungen von Psychopharmaka in Österreich enthielten 347.754.934 DDD im Jahr 2019 und 344.635.932 im Jahr 2020 (-0,9 %). Die verordneten DDD änderte sich während des ersten Lockdowns (43.919.718) im Vergleich zum Referenzzeitraum 2019 (43.137.841) nicht signifikant. Während des zweiten Lockdowns sank die Zahl der verordneten DDD um -15,0 % (18.531.911). Während der Zeit im Jahr 2020, in der keine Lockdowns erfolgten, war ein leichter Rückgang der DDD um -0,3 % zu verzeichnen (281.834.577 vs. 282.816.126). Bei visueller Inspektion der wöchentlichen DDD in beiden Jahren in Abbildung 1 zeigte sich ein deutlicher Anstieg kurz vor und zu Beginn des ersten Lockdowns um +40,9 %.
Im Jahr 2020 – während der Lockdowns – erhielten 21.364 neue Patientinnen und Patienten (319±226 pro Tag) eine Verschreibung, und 130.768 (437±290 pro Tag) während der Zeiträume 2020, in denen es keine Lockdowns gab (Abbildung 2). Es zeigte sich somit ein Rückgang der Anzahl an täglich neuen Patientinnen und Patienten um -27,1 % während der Lockdowns.
Diskussion
Die Gesamtzahl der Verordnungen von Psychopharmaka ging von 2019 auf 2020 leicht zurück. Dieser Rückgang wurde jedoch teilweise kompensiert durch einen Anstieg der DDD pro Verordnung. Der zeitliche Verlauf der verordneten DDD im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 zeigte einen Verordnungsanstieg von Psychopharmaka, über alle Untergruppen hinweg, kurz vor und zu Beginn des ersten Lockdowns. Dieser Effekt war vor dem zweiten Lockdown nicht mehr feststellbar. Dies kann als emotionale Reaktion auf eine unbekannte Situation interpretiert werden, ähnlich wie die Hamsterkäufe, von denen im Zusammenhang mit den COVID-19-Lockdowns berichtet wurden [10].
Die Zahl der Verordnungen und die verordneten DDD von Anxiolytika und Hypnotika sank 2020 um mehr als 10 % im Vergleich zu 2019. Dieser Rückgang kann jedoch nicht zuverlässig auf eine Änderung der Verschreibungsgewohnheiten zurückgeführt werden, da die vorliegenden Daten nur rezeptpflichtige Arzneimittel erfassen, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen wurden. Somit waren freiverkäufliche und rezeptpflichtige Medikamente unterhalb der Rezeptgebühr in den hier präsentierten Daten nicht enthalten, wie es etwa bei Psychopax®-Tropfen sowie Praxiten® 15 mg Tabletten der Fall war, da hier der Preis unter der Selbstbehaltsgrenze lag. Darüber hinaus gab es um die Jahresmitte 2020 Lieferprobleme bei einem weiteren wichtigen Anxiolytikum, nämlich Praxiten® 50 mg Tabletten, was die Verordnungsdaten ebenfalls erheblich beeinflusst haben könnte.
Die Analyse der neu in die Behandlung eingetretenen Patientinnen und Patienten deutet darauf hin, dass die Pandemie und die beiden Lockdowns vor allem für diese Patientengruppe ein großes Hindernis darstellten. Wir sahen einen signifikanten Rückgang in der Anzahl an inzidenten Patientinnen und Patienten während des ersten Lockdowns, mit einem anschließenden Wiederanstieg und einem Rückgang der Neuzugänge noch vor dem zweiten Lockdown, entsprechend den zu diesem Zeitpunkt in Österreich bereits stark steigenden COVID-19-Infektionsraten.
Eine Stärke dieser Analyse ist die sehr große, landesweite Stichprobe, die mehr als 98 % der österreichischen Allgemeinbevölkerung abdeckt. Als Schwäche der Studie muss erwähnt werden, dass trotz der regelmäßigen Verwendung in der Psychiatrie Verschreibungen für Antiepileptika nicht berücksichtigt wurden, da eine Anwendung als neurologische Behandlung nicht zuverlässig ausgeschlossen werden konnte.
Allgemein ist zu sagen, dass die genannten Veränderungen der Verschreibungen während der Pandemie sehr wahrscheinlich das Ergebnis mehrerer sich überlagernder Effekte waren, wie einer veränderten persönlichen Hilfesuche sowie verstärkte Barrieren. Dennoch kann diese Studie nur die Summe dieser Effekte aufzeigen, ohne die Möglichkeit einer weiteren Differenzierung.
Fazit
Entgegen den Erwartungen sind die Verordnungen von Psychopharmaka im analysierten Zeitraum nicht gestiegen. Daten deuten aber darauf hin, dass die Pandemie und insbesondere die Lockdowns die psychische Gesundheit der Allgemeinbevölkerung beeinträchtigt haben. Eventuell stellten die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen ein Hindernis für neue psychiatrische Patientinnen und Patienten dar, Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen.
Abb.1
Abb. 2
Abbildungen:
Victoria Schöbera, Dietmar Winklera, Berthold Reichardtb, Edda Pjreka
a Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Österreich.
b Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), Eisenstadt, Österreich
Literatur
[1] Traunmüller C, Stefitz R, Gaisbachgrabner K und Schwerdtfeger A. Psychological correlates of COVID-19 pandemic in the Austrian population. BMC Public Health 2020;20:1395.
[2] Pieh C, Budimir S und Probst T. The effect of age, gender, income, work, and physical activity on mental health during coronavirus disease (COVID-19) lockdown in Austria. J Psychosom Res 2020;136:110186.
[3] Pieh C, Budimir S, Humer E und Probst T. Comparing Mental Health During the COVID-19 Lockdown and 6 Months After the Lockdown in Austria: A Longitudinal Study. Front Psychiatry 2021;12:625973.
[4] Arbeitsmarktservice Österreich. Arbeitsmarktdaten online - Arbeitslosigkeit. Abrufbar unter: iambweb.ams.or.at/ambweb/.
[5] Torales J, O'Higgins M, Castaldelli-Maia JM und Ventriglio A. The outbreak of COVID-19 coronavirus and its impact on global mental health. Int J Soc Psychiatry 2020;66:317–20.
[6] Eglau K. Erste Analyse der Auswirkungen des Lockdowns während der COVID‐19‐Pandemie auf die stationäre Spitalsversorgung anhand ausgewählter Bereiche. Gesundheit Österreich, 2020. Abrufbar unter: https://jasmin.goeg.at/1507/1/Auswirkungen%20Lockdown_Covid19_GÖG_bf.pdf.
[7] World Health Organization. COVID-19 disrupting mental health services in most countries, WHO survey finds, 2020. Abrufbar unter: reliefweb.int/report/world/covid-19-disrupting-mental-health-services-most-countries-who-survey-finds.
[8] World Health Organization. Defined Daily Dose (DDD). Definition and general considerations, 2023. Abrufbar unter: www.who.int/tools/atc-ddd-toolkit/about-ddd.
[9] World Health Organization. ATC/DDD Index 2023. Abrufbar unter: www.whocc.no/atc_ddd_index/.
[10] Taylor S. Understanding and managing pandemic-related panic buying. J Anxiety Disord 2021;78:102364.